Jacques‘ Tagebuch
Die Geschichte einer Flucht
Eine fiktive Erzählung von Pia und Lucia
Hey du… Ja, genau du!
Ich möchte dir meine Geschichte erzählen. Aber zuerst stelle ich mich mal vor…
Ich bin Jacques, 21 Jahre alt und komme aus Frankreich. Ich lebe seit 3 Jahren in Hannover und studiere dort Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften. Ich hatte bisher ein sehr aufregendes und teilweise schwieriges Leben, von dem ich dir jetzt erzählen möchte.
Alles begann am 01.07.2011 gegen 23:00.
Ich war zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alt und ging in die neunte Klasse eines Gymnasiums in einer nordfranzösischen Stadt. Es ging uns gut, wir waren verhältnismäßig wohlhabend und hatten ein schönes Leben. Doch als wir an diesem Abend die Nachrichten sahen, waren wir erschrocken! Es würde Krieg geben, sagten sie. Wir waren nicht mehr sicher und mussten uns schnell überlegen, wie es jetzt weiter gehen soll. Wo sollten wir jetzt hin und würden wir es überleben ?
Keiner wusste es!
Meine Eltern und wir Kinder ( Sophie, 17, und ich ) setzten uns zusammen und dachten eine lange Zeit darüber nach, bis wir zu dem Schluss kamen, dass wir nach Deutschland flüchten werden. Wir wollten mit dem Auto bis zum Hafen fahren und von dort mit dem Schiff weiter nach Deutschland. Wir entschieden uns, bereits in zwei Tagen zu fahren. So hatten wir noch etwas Zeit uns von Verwandten und Freunden zu verabschieden und unsere Sachen zu packen.
2.7.,3:23
Ich saß alleine in meinem Zimmer vor einer großen Tasche und einem Haufen Klamotten. Ich konnte das nicht, ich konnte es einfach nicht. Weg von hier, weg von meinen Freunden und meiner gewohnten Umgebung, rein in ein völlig fremdes Leben, umgeben von völlig fremden Menschen und fremden Kulturen, einer fremden Sprache. Und das alles ganz plötzlich und ungewollt.
Aber ich konnte es nicht ändern. Wie denn auch?
Ich musste damit leben, und das würde ich auch schaffen. Es war sicherer für uns. Also packte ich meine Klamotten in die Tasche und holte meine wichtigsten Sachen aus dem Bad. Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo. Das sollte erstmal reichen. Ich stellte die Tasche in eine kleine Nische in meinem Zimmer und nahm die Bilder von meinen Freunden von meiner Wand. Ich setzte mich auf mein Bett und sah sie an, bevor ich sie hastig in meine Tasche steckte.
Mir war nicht zum Weinen zumute und auch nicht nach Ausrasten oder so. Ich hatte plötzlich ein ganz schreckliches Gefühl von Übelkeit und Schwindel und hätte am liebsten geschlafen, aber es ging nicht, weil mir einfach zu viele Gedanken im Kopf schwirrten.
Würden wir heil in Deutschland ankommen? Würde ich Freunde finden? Hätten wir ein Zuhause?Ich konnte es einfach nicht wissen. Ich saß betrübt in meinem Bett, bis ich nach langer Zeit in einen Tiefschlaf fiel.
02.07.2011, 11:16
Ich wachte auf. Die warme Sommersonne schien mir ins Gesicht. Ich hatte länger geschlafen als sonst und konnte mich nicht daran erinnern etwas geträumt zu haben. Es ging mir gut, bis ich den Koffer in der Ecke meines Zimmers sah. Sofort war ich wieder erschüttert und traurig. Aber das hielt mich nicht davon ab aufzustehen, mir etwas anzuziehen und mich auf den Weg zu meinen Freunden zu machen, um mich zu verabschieden.
12:23
Eine Email erreichte mich.
Liebe Freunde,Verwandte und Familie,
Es tut uns leid, dass wir euch nicht persönlich Bescheid sagen konnten. Wir haben uns dazu entschieden, in ein sicheres Land zu gehen und vor dem Krieg zu fliehen. Wir werden versuchen sicher anzukommen und uns bei euch melden, sobald wir die Möglichkeit dazu finden.
In Liebe,
Clara, Jêromê, Beátrice und Calviń
Das konnte nicht sein..
Clara war meine beste Freundin, und jetzt war sie weg. Einfach so, und vermutlich würden wir uns nie wieder sehen. Mir lief eine Träne über die Wange und es wurden immer mehr. Ich konnte nicht mehr. Ich setzte mich auf den kleinen Treppenabsatz vor dem Haus und vergrub mein Gesicht in den Händen.
Ich muss wohl ziemlich lange so dagesessen haben. Als ich mich wieder aufrecht hinsetzte, dämmerte es draußen und ich musste langsam wieder zurück. Langsam schlenderte ich durch die endlos langen Straßen. Müde und erschöpft von meinem langen Tag.
20:03
Ich war wieder zuhause. Meine Gedanken kreisten um den nächsten Tag, die nächsten Wochen, die nächsten Monate und Jahre. Als ich zuhause ankam, stand ich vor einem großen Haufen von Taschen und Koffern. Ich hörte meine Eltern reden und meine Schwester fluchen. Es war ein komisches Gefühl zu wissen, dass wir morgen hier weg sein würden.
Ich ging in die Küche und nahm mir ein Glas Wasser. Ich überlegte, ob wir die nächsten Tage überhaupt noch etwas zu trinken bekommen würden, deswegen nahm ich vorsichtshalber eine große Flasche Wasser mit in mein Zimmer und stopfte sie in den letzten freien Platz in meiner Tasche.
20:25
Ich legte mich in mein Bett. Mit den Kopfhörern in den Ohren schlief ich ein.
03.07.2011, 5:34
– Hey, Jacques, steh auf, wir müssen los!
– Was, jetzt!?
– Ja, jetzt, beeil dich bitte!
– Ja, bin gleich unten…
Okay, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Jetzt schon los? So früh morgens?
Ich stand auf, zog mir was an, nahm meine Tasche und trug sie runter. Meine Eltern waren sehr hektisch und aufgeregt, ich fühlte in dem Moment gar nichts. Sophie liefen ein paar Tränen übers Gesicht und sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln, welches aber ziemlich unwirklich rüber kam.
12:33
Die ganze Fahrt über waren wir alle still. Keiner traute sich etwas zu sagen.
Als wir dann an dem großen Hafen ankamen und unsere Sachen aus dem Auto holten, ging es erst richtig los. Überall waren Menschen und wir wurden regelrecht umgeschubst. Als wir dann endlich auf dem Schiff waren, setzten wir uns als Familie zusammen und beteten, dass alles gut gehen wird.
Viele Tage verbrachten wir gemeinsam auf dem Schiff. Irgendwann kam die erlösende Durchsage, dass wir nun Deutschland erreicht hätten. Wir waren froh, dass alles gut gelaufen war und wir sicher angekommen waren. Doch auf dem Weg runter vom Schiff, hinein in ein sicheres Leben wurde unsere Familie förmlich auseinandergerissen. Wir wurden in dem Gedrängel in verschiedene Richtungen geschubst. Ich wurde von meiner Familie getrennt. Von da an stand ich auf eigenen Beinen.
Heute, fast 5 Jahre später, sitze ich hier und denke über all das nach. Hätte es anders laufen können? Was ist mit dem Rest meiner Familie passiert, leben sie noch?
Ich selber habe es geschafft, mir ein halbwegs gutes Leben zu machen. Ich wohne in Hannover in einer kleinen Wohnung am Standrand und habe es schnell geschafft, mich an die neue Umgebung und die Menschen zu gewöhnen. Das einzige, was mich stört ist, dass ich sehr wenig Geld habe und oft auf der Straße angesprochen werde. Vor einiger Zeit saß ich am Nachmittag auf einer kleinen Bank im Park, als auf einmal eine Frau mit einer Tüte Klamotten auf mich zukam, weil sie mich für einen Obdachlosen hielt. Ich habe versucht ihr zu erklären, dass ich die Sachen nicht brauche, aber davon wollte sie nichts hören. Sie legte den Sack neben mich und ging. Es war zwar nett von ihr, dass sie sich um andere Menschen kümmert und ihnen helfen will, aber dennoch macht es mich traurig, wenn ich als Obdachloser abgestempelt werde, nur weil ich nicht die teuersten Klamotten trage.
Das war meine Geschichte.
Jaques